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MAßMÄNNCHEN

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Die Welt, in der wir leben, ist voller Maßstäbe. Sie sind allgegenwärtig – in der Architektur, in Möbeln, in Türen, Fenstern und Spiegeln. Sie bestimmen, wie wir uns durch Räume bewegen, wie wir Dinge erreichen, sehen und erleben. Doch diese Maßstäbe sind nicht für jeden gemacht. Sie orientieren sich an einer Norm, an Durchschnittsgrößen, die für die meisten Menschen passend erscheinen. Doch was passiert, wenn man plötzlich nicht mehr in diesen Rahmen passt?

Seit ich im Rollstuhl sitze, hat sich meine Perspektive auf die Welt grundlegend verändert. Ich weiß noch, dass ich 1,90 Meter groß bin – zumindest theoretisch. Aber dieses Wissen fühlt sich zunehmend abstrakt an. Die Höhe von Möbeln, die Proportionen von Räumen, die Größe anderer Menschen – all das wirkt verzerrt und fremd. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich nicht mehr genau einschätzen kann, wie groß etwas wirklich ist. Fenster erscheinen mir plötzlich unerreichbar hoch, Tische wirken zu massig oder zu niedrig, und selbst die Menschen um mich herum scheinen ihre Größe zu verändern, je nachdem, aus welchem Winkel ich sie betrachte.

Diese Erfahrung zeigt mir, wie stark unsere Umgebung auf eine bestimmte Norm abgestimmt ist. Die durchschnittliche Frau ist etwa 1,60 bis 1,80 Meter groß, der durchschnittliche Mann zwischen 1,70 und 1,90 Metern. Diese Maße bilden den stillen Standard, nach dem gebaut und gestaltet wird. Wer außerhalb dieser Norm liegt – sei es durch außergewöhnliche Körpergröße, Kleinwüchsigkeit oder eben durch einen Rollstuhl – stößt oft auf Unsichtbares, aber dennoch spürbares Unbehagen.

Die Welt ist nicht für jeden gemacht. Sie ist nicht für jede Körpergröße, jedes Bewegungsmuster oder jede Perspektive optimiert. Und doch leben wir alle in ihr, bewegen uns durch dieselben Räume und stehen vor denselben Fenstern – nur eben aus ganz unterschiedlichen Höhen.

Ich habe gelernt, dass Maßstäbe nicht absolut sind. Sie sind relativ zu unserer Position im Raum, zu unserer Körperlichkeit und unserem Blickwinkel. Und vielleicht sollten wir beginnen, Räume zu gestalten, die diese Vielfalt anerkennen – Räume, die nicht nur einer Norm dienen, sondern Platz für viele Perspektiven bieten. Denn nur so kann eine Welt entstehen, in der alle Menschen sich gleichermaßen gesehen und einbezogen fühlen – egal, ob sie 2,05 Meter groß sind, 1,40 Meter klein oder im Rollstuhl sitzen.

Es geht nicht darum, Maßstäbe abzuschaffen. Es geht darum, sie zu hinterfragen – und vielleicht ein Stück weit flexibler zu machen.

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